Jocelyne Saucier (geboren am 27. Mai 1948 in Clair, Provinz New Brunswick) ist eine kanadische Schriftstellerin französischer Sprache. Sie lebt seit 1961 in Rouyn-Noranda im Westen der Provinz Québec.

Leben und Werk

Saucier studierte Politische Wissenschaften an der Université Laval mit dem Abschluss Baccalauréat und arbeitete dann als Journalistin in Abitibi. Ihr erster Roman La vie comme une image erschien 1996, der zweite Les héritiers de la mine 2001. Im Jahr 2006 publizierte sie Jeanne sur les routes. Einen unveröffentlichten Kinderroman hat sie 2007 zum Theaterstück umgeschrieben.

Sieglinde Geisler sieht in der NZZ am Sonntag eine Gemeinsamkeit der beiden bis 2019 auf Deutsch erschienenen Romane Sauciers:

Saucier ist Mitglied der „Union des écrivains du Québec“ (Schriftstellerverband der Provinz Quebec).

Ein Leben mehr (französisches Original Il pleuvait des oiseaux)

Ihr Roman, 2011 in Französisch erschienen, wurde in Kanada für vierzehn Literaturpreise nominiert. Er liegt seit 2015 in Deutsch, ferner in anderen Sprachen vor.

Die Erzählstränge des Romans sind

  • der große Brand in Kanada 1916, das Matheson Fire, einer von vielen Rodungsbränden jener Zeit, die zahlreiche Todesopfer forderten, illustriert an der Person eines Überlebenden, der gerade jetzt (also um das Jahr 2000) verstorben ist und viele gemalte Bilder hinterlassen hat;
  • das Verschwinden von Aussteigern hohen Alters in den "Untiefen", dem Dickicht der kanadischen Wildnis, sie sind vom Leben gezeichnet, "lustvolle Einsiedler", die sich keinen Zwängen mehr unterwerfen, als der Härte und Intensität der freien Natur. Sie leben wie außerhalb von Raum und Zeit, in Freiheit und Staatsferne, jeder in einer eigenen Waldhütte. Nur ihre Erinnerungen an die alte Zeit, als sie damals noch in der Zivilisation lebten, sind noch da. Dem Tod gegenüber sind sie gelassen, sie spüren seine Nähe, sie spielen fast mit ihm, schicken ihn bisweilen fort. Ihr Zusammentreffen an diesem Ort ist eher zufällig, sie beginnen hier gleichzeitig ein "neues Leben", indem sie das alte weit hinter sich lassen. Ihre Lebensader zur Außenwelt bilden zwei jüngere Männer, welche die technische Ausrüstung dazu haben. Sie sorgen auch dafür, dass die gesetzlichen Renten der Uralten diese erreichen.
  • eine Liebesgeschichte im Kreis ebendieser alten Männer, mit einer ebenfalls alten Frau, die dem psychiatrischen Zwangssystem des Staates nach vielen Jahrzehnten glücklich entkommen ist, die also ebenfalls aus dem "normalen" Leben verschwunden ist und ein neues Leben beginnt. Zum ersten Mal sieht sie einen Elch in seiner natürlichen Umgebung.
  • und das auf lange Dauer angelegte Projekt einer jüngeren Fotografin, die gemalten Bilder des Überlebenden von 1916 und ihre eigenen Fotografien alter Menschen, die überwiegend zum Kreis der Überlebenden von großen Bränden gehören und inzwischen verstorben sind, in Toronto auszustellen, was ihr letztlich auch gelingt. Sie sammelt Gesichter und Geschichten aus der Zeit der großen Brände, will Zeitgenossenschaft ermöglichen.

Der Roman beschreibt das Leben der früher drei, nun noch zwei, knapp 90-jährigen Aussteiger im Wald, wozu auch der versteckte, illegale Anbau von Marihuana gehört. Der ruhige Tonfall des Romans spiegelt die abgeklärte Ideenwelt der alten Leute wider, auch ihre Beschäftigung mit dem Tod, den sie möglicherweise in nächster Zeit zu gewärtigen haben. Eine Strychnindose in jeder der Waldhütten markiert ihre Freiheit, ihrem Leben zu jenem Zeitpunkt ein Ende zusetzen, den sie selbst bestimmen. Saucier stellt vor allem die Idee menschlicher Freiheit dar, im Leben wie im Sterben. Das Symbol dieser Freiheit ist die Natur Nord-Kanadas, in ihrer Großartigkeit, aber auch Gefährlichkeit.

Radio Canada beurteilt das Buch aus Anlass des "Prix des lecteurs 2012", den es ihm verliehen hat:

Die Autoren-Kollegin Marie Laberge meint zu diesem Buch:

Saucier betont, dass das Hauptthema des Buches das Altern darstellt

Die erste Hälfte des Buchs bilden Kapitel, in denen die Stimme je einer anderen Figur spricht; in der 2. Hälfte gibt es hingegen einen auktorialen Erzähler. Die deutsche Übersetzung Sonja Fincks wird von der ungenannten Rezensentin im Westdeutschen Rundfunk, WDR 5, als "sprachmächtig" besonders gelobt. Die Rezensentin in WDR 3 bezeichnet den Roman als packend, berührend und faszinierend in seiner Darstellung des Altwerdens.

Einige Motive des Romans erinnern deutlich an Henry David Thoreaus Roman Walden aus dem 19. Jahrhundert, insbesondere das Aussteiger-Motiv in einer Waldhütte und die kritische Sicht auf staatliche Organe, welche das freie Individuum viel zu stark einschränken.

Werke (in Deutsch)

  • Ein Leben mehr. Roman. Übers. Sonja Finck. Insel, Frankfurt 2015, ISBN 3-458-17652-7 TB 2017, ISBN 978-3-458-36189-3 (Original: Il pleuvait des oiseaux. XYZ, Montréal 2011; Gallimard, Paris 2015)
    • Hörbuch: 5 CDs Steinbach sprechende Bücher, 2015. Stimmen Wolfgang Berger, André Eckner, Beate Rysopp ISBN 3-86974-224-0
    • Deutsche Hörspiel-Fassung: Geschichten des Überlebens, durch Deutschlandfunk Kultur, Regie: Andreas Jungwirth; Sounds: Ulrich Lampen; Stimmen: Cristin König, Katharina Matz, Günter Lamprecht, Tilo Prückner, Oliver Stokowski, Matthias Matschke; Komposition: Bert Wrede; Ton: Alexander Brennecke. Produktion 2017, Dauer 70 min, Ursendung 28. Mai 2017
    • Die englische Übersetzung durch Rhonda Mullins erhielt den Governor General’s Literary Award in der Sparte "Translation: French to English", 2015
  • Übers. Sonja Finck, Frank Weigand: Niemals ohne sie. Insel, Frankfurt 2019 (Les héritiers de la mine, Éd. XYZ, 2001)
    • Hörbuch: Niemals ohne sie. Random House Audio, 2019, 370 min. (Ungekürzt) Stimmen Devid Striesow, Claudia Michelsen, Anna Thalbach, Sabin Tambrea, Robert Stadlober, Benno Fürmann
      • Englische Übers. Rhonda Mullins: Twenty-One Cardinals. Coach House Books, 2015

Rezensionen (in Deutsch)

  • Thomas Steinfeld: Kanadischer Roman: Einsame Spitze. Jocelyn Saucier entzündet Signalfeuer der Freiheit und erzählt von der Souveränität des Alters unter den Bedingungen der Wildnis. Süddeutsche Zeitung, 12. Oktober 2015 Umfassende Rezension
  • Ulrike Köhler: "Ein Leben mehr", auf der Website "Literaturtipps"
  • Sophie Weigang: Jocelyne Saucier: Ein Leben mehr. Auf der Website Literaturen
  • Bories vom Berg: Wenn es Vögel regnet. Literaturzeitschrift, 11. Mai 2017
  • Jennifer Dummer: Ein Leben mehr. Zur Buchmesse Frankfurt 2020/2021: Rezension, auf "quelesen. Literatur aus Quebec", Oktober 2020

Preisträgerin (Auswahl) für Il pleuvait des oiseaux

  • Canada Reads/Le combat des livres, Radio Canada, französische Sparte, 2013. Die "Verteidigerin" dieses Buchs war Geneviève Guérard.
  • Canada Reads, Radio Canada, englische Sparte, für die Übersetzung, Diskussion über anfänglich 5 Bücher, 2015. Die "Verteidigerin" dieses Buchs war Martha Wainwright.
  • Prix littéraire des collégiens, 2012
  • Prix littéraire, France-Québec, 2012
  • "Prix des cinq continents de la francophonie", 2011

Sonstige Preisträgerin

  • "Prix à la création artistique" des Conseil des arts et des lettres du Québec, CALQ, für die Region l’Abitibi-Témiscamingue, 2010

Weitere Medien zu "Ein Leben mehr"

  • Hörbuch, Produzent: Bayerische Blindenhörbücherei, Stimme: Robert Valentin Hofmann (vollständige Fass. 5 h 56'), bundesweit ausleihbar oder zu erwerben bei Deutsches Zentrum für barrierefreies Lesen, Nr. 34033, sowie bei den entsprechenden Bibliotheken in Österreich und der Schweiz (Fernleihe)
  • Outsiders films produziert seit Juli 2018 einen Film nach "Ein Leben mehr", zunächst in den beiden kanadischen Hauptsprachen. Das Drehbuch schrieben Catherine Léger und Louise Archambault. Mitwirkende sind Ginette Petit und Nathalie Bissonnette als Produzentinnen und Andrée Lachapelle, Rémy Girard, Louise Portal, Gilbert Sicotte, Ève Landry und Éric Robidoux als Darsteller; ihre Porträts gibt es auf den Seiten des Produzenten. Die Produktion kam im September 2019 in Kanada in die Kinos. Ein Trailer ist bei der Société Radio-Canada verfügbar.
  • Hörspiel: Ein Leben mehr. Bearb.: Andreas Jungwirth, Regie und Sounds: Ulrich Lampen. Stimmen: Cristin König, Katharina Matz, Günter Lamprecht, Tilo Prückner, Oliver Stokowski, Matthias Matschke. Komposition: Bert Wrede, Ton: Alexander Brennecke. 70 min. Erstsendung 28. Mai 2017, in Deutschlandfunk Kultur (zugl. Produzent)
  • 1. Oktober 2013: Die Autorin auf YouTube zum Roman. Rentrée littéraire 2013. In frz. Sprache
  • Video auf Babelio, frz.
  • Jocelyne Saucier ou l’ambivalence créatrice (frz.), Lettres québécoises No 148, Winter 2012, p. 3–72, Zugang über érudit 20, von André Brochu. Das abgebildete Titelbild zeigt ein Porträt der Autorin.

Verkaufserfolg

Nach Auskunft von Arnaud Foulon, Vizepräsident des kanadischen Branchenverbands der Verleger, "Livres Canada Books" war Il pleuvait des oiseaux 2016 das im Ausland (in seinen ca. 12 Übersetzungen) meistverkaufte Buch eines kanadischen Autors.

Siehe auch

  • Herald Tribune, die Zeitung, für welche die Fotografin die Großen Brände recherchierte.
  • Témiscamingue, die Quebecer Region, in der die Großen Brände damals wüteten.

Weblinks

  • Literatur von und über Jocelyne Saucier im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
  • Werke von Jocelyne Saucier bei Open Library
  • Jocelyne Saucier bei IMDb
  • Literatur von und über Saucier bei Bibliothèques et Archives Canada LAC/BAC, im neuen OPAC namens "Voilà", seit 2018 (bspw. im Juni 2018 mit 68 Treffern)
  • Babelio: Saucier antwortet auf Leserfragen zu "Il pleuvait des oiseaux." (In Französisch)
  • Audio "Ein Leben mehr" WDR 3 Rezension, 14. Dezember 2015: Das Alter, die Liebe, das Leben, das Sterben. In ihrem Roman widmet Saucier sich den ganz großen Themen
  • Audio: "Ein Leben mehr" Rezension. WDR 5: Scala – Aktuelle Kultur, 22. Dezember 2015: Ted, Tom und Charlie hatten einen Plan. Die drei alten Männer wollten ihr Leben in totaler Freiheit zu Ende bringen, gemeinsam einsam, unentdeckt in einem Wald in Kanada. Aber es kommt anders, als sie dachten.
  • Ein Leben mehr. Roman von Jocelyne Saucier in deutscher Übersetzung, Kurzrezension auf einer Site der Regierung von Québec für BRD, Österreich und die Schweiz, Standorte Berlin und München, Kulturseiten (in Deutsch)
    • "Ein Leben mehr" im Kontext weiterer übersetzter Quebecer Literatur, mit Bemerkungen des Lektors zur Übersetzerin und zum auffälligen Verkaufserfolg des Buchs, auf quélesen
  • Große Brände von Ontario 1916, mit mindestens 224 Todesopfern. Da der Brand alle Spuren ausgelöscht hatte, ist ihre genaue Zahl nie bekannt geworden, in: Waldbrände in Kanada..., von Hans Bernhard, 1964
  • "Ein Leben mehr" im Bibliothekskatalog "Aurora" der Kanadischen Nationalbibliothek: Bibliothèque et Archives Canada BAC / Library and Archives Canada
  • Saucier, Ein Leben mehr und Was dir bleibt (2020), für den personalisierten Link die zwei verschiedenen Bilder auf dieser Site anklicken (je eine Word-Datei). 2020: Auf XXL-Zugfahrt durch die Weiten Kanadas. Mit dem neuen Roman von Jocelyne Saucier über 3.000 Kilometer durch Québec und Ontario reisen. Zugfahrt auf den Spuren der Protagonistin, sowie zwei weitere lange Zugfahrten durch Kanada. Das Railway Museum of Eastern Ontario.

Notizen


Jocelyne Saucier Babelio

Ein Leben mehr. Buch von Jocelyne Saucier (Suhrkamp Verlag)

Literaturgarten ein Bücherblog *Niemals ohne sie* von Jocelyne

Jocelyne Saucier

Niemals ohne sie (Jocelyne Saucier) Petras BücherApotheke